Titel: Zur Geschichte der Wissenschaft  •  im Verlag von Thomas Dittert

offenes Buch

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Porträt: Emil du Bois-Reymond
Emil du Bois-Reymond

Über Geschichte der Wissenschaft

Neujahrsgabe 1989

Rede gehalten in der öffentlichen Sitzung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Feier des Leibnizischen Jahrestages am 4. Juli 1872

 

EMIL DU BOIS-REYMOND war ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine Ansprache zur Leibniz-Feier der Akademie befaßt sich mit der Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte.

Vor allem ist, wie er es ausdrückt, Geschichtsbewußtsein ein Kennzeichen wissenschaftlicher Kultur. Wir sollen uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen, nicht einfach um ihrer selbst willen, sondern um der Gegenwart willen, die wir mit ihrer Hilfe besser verstehen und beurteilen können. Dementsprechend kommt der Wissenschaftsgeschichte eine entscheidende Rolle in der Universitätsausbildung zu. Lehren darf sich nicht in der bloßen Übermittlung angesammelten Wissens erschöpfen. Der Student kann die wahre Bedeutung von Forschungsergebnissen nicht verstehen, ohne Einblick in ihre Entstehung zu haben. Er muß auch erfahren, wie wissenschaftliche Theorien sich entwickelt haben, von der Beobachtung über Hypothesen zu allgemeingültigen Aussagen.

Auch von einem anderen Gesichtspunkt aus ist es von großem Nutzen, die Wissenschaft im Entstehen zu erleben: Du Bois-Reymond sieht einen Zusammenhang zwischen dem induktiven Schließen des Einzelnen und der historischen Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen, soweit sie sich auf die induktive Methode stützen. Während der Student die Bildung einer Theorie nachvollzieht, sind seine Gedankenschritte den Entwicklungsstufen der betreffenden Wissenschaft vergleichbar: er wird an jeder Stelle die gleichen Schlüsse ziehen wie sein Vorgänger an der entsprechenden Stelle der historischen Entwicklung. Damit formuliert Du Bois-Reymond Haeckels biogenetisches Grundgesetz - die Ontogenese wiederholt die Phylogenese - bezogen auf die geistige Entwicklung.

Also liegt folgendes nahe: Die beste Art, eine Wissenschaft zu lehren, ist, den Studenten im Geiste noch einmal ihre geschichtliche Entwicklung durchleben zu lassen. Zu diesem Zweck sollten im Unterricht die grundlegenden Originalabhandlungen jedes Gebietes gelesen werden. Die Wissenschaft könnte auf diese Weise am leichtesten erfaßt werden, außerdem würde das Vorbild der führenden Wissenschaftler seine Wirkung nicht verfehlen und den Studenten zu selbständiger Forschung ermuntern.

DU BOIS-REYMONDS Untersuchung zeigt die Breite seines Wissens in Natur- und Geisteswissenschaften. Zugleich versteht er es, seinen Standpunkt durch treffende Formulierungen zum Ausdruck zu bringen.